Obdachlos
2018-04-01
Kürzlich entdeckte ich auf dem Büchertisch „Richard Brox“. Ein interessantes Gesicht. Ein Mann. Viel gelebtes Leben sehe darin. Ich nahm es in die Hand. „Die Biografie eines Obdachlosen“ las ich den Untertitel.
Natürlich lese ich den Klappentext. Auch der Hinweis vorne drauf „mit einem Vorwort von Günter Wallraff“ war nicht zu übersehen. Ich rieche oft ins Buchinnere hinein. Ich legte es zur Seite. Für später.
Früher schon habe ich mich gefragt, welche Geschichten hinter den Gesichtern lauern. Menschen, die auf der Straße sitzen und betteln. Nicht nur das. Auch Menschen, die auf Bänken liegen mit Zeitungen drunter und drüber. In der Kälte. Oder vor dem Eingang in die Kirche.
Ich selbst habe nichts gegeben, wenn ich an Ihnen vorbeikam. Aber angeschaut habe ich sie fast immer. Als mein Sohn noch ein Kind war und wir diese Menschen auf der Straße sitzen sahen, fragte er mich immer nach einer Münze, die er geben wollte. Ich gab ihm Eine. Scheu ging er hin, grüßte und legte die Münze in den Becher oder was immer dafür bereitstand. Er bückte sich. Nie habe ich ihn die Münze werfen oder fallen lassen sehen.
In der Zeitung standen Geschichten über Obdachlose. Keine Guten. Sie versaufen alles. So was zum Beispiel. Noch schlimmer waren Geschichten über „organisierte Bettelei“. Abschreckend. Und doch. Meine Frage nach deren Geschichten blieb.
In Indien. Da erlebte ich Menschen, deren Leben auf der Straße stattfand. Sie bildeten Trauben um Touristen herum. Alle mit offenen Händen und bittenden Augen. Wenn die Züge nachts am Bahnhof hielten, die Fenster offenstanden, weil es unerträglich heiß war, sah ich nur die Hände, die durch die Fenster hereinkrochen und hofften gefüllt zu werden.
Dies und mehr spazierte als Gedankenfolge durch meinen Kopf, nachdem „Richard Brox“ an der Seite lag und wartete gelesen zu werden.
Dann las ich seine Geschichte. Atemlos. Erschüttert. Entsetzt. Und staunend. In jedem Fall konnte ich es beinah nicht zur Seite legen, bevor das letzte Wort, der letzte Buchstabe verschluckt war. Sicher ist seine Geschichte nicht vergleichbar mit anderen Geschichten obdachloser Menschen. Sie ist besonders. Auch wenn alle Geschichten besonders sind. Seine ist besonders, weil er berühmt geworden ist. Bekannt. Sein Gesicht, seine Geschichte liegt in den Buchhandlungen. Die Art, wie er berühmt wurde, allein ist grandios. Am eindrücklichsten war für mich das Ende. Richard Brox hat eine Utopie, einen Traum, eine Vision. Er will eine Obdachlosenunterkunft errichten, die all das hat, was er in seinen Unterkünften nie oder nur selten vorfand. Eine Art Hotel für diese Menschen. Auch tagsüber offen.
Wenn aber Richard Brox tagsüber in solch eine Einrichtung hätte gehen können, damals in Berlin … wäre er dann berühmt geworden? Weil alle geschlossen waren, weil es kalt war, und auch nass, fand er den Weg zum Internet-Café. Damals. Ohne zu wissen, was ihn dort erwartete. Nur warm und trocken wollte er es haben.
Seit ich Richard Brox „begegnet“ bin, habe ich ein neues Bewusstsein für die Menschen, die auf der Straße leben.
Kategorie: Bücher
Tags: bemerkenswert